Donnerstag, 1. September 2011

Noctambule II: Das letzte Geschenk

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

"Herr, zeige mir deine Wege und lehre mich deine Pfade! Und wenn ich durch finsteres Tal muss, so fürchte ich doch kein Unglück, denn du bist bei mir!" hob der Priester nun in monotoner Stimme an und Miriam senkte den Kopf noch tiefer.
In ihr weigerte sich alles, diesen Gott anzubeten, der ihre Eltern nicht vor dem Tod geschützt und sie damit viel zu früh in hilflose Einsamkeit gestürzt hatte. Verzweifelt versuchte sie, diese lästerlichen Gedanken zu unterdrücken, doch der Schmerz schürte ihren Zorn auf diesen gnadenlosen Gott und neues Schluchzen schüttelte sie.

Sie nahm die Worte des Priesters nur am Rande wahr und würde sie später nicht einmal wiederholen können. Ihre Augen brannten bereits vom Abtupfen mit dem Taschentusch und die Nase wurde langsam wund vom vielen Schnäuzen, auch wenn sie verzweifelt versuchte, sich zusammen zu reißen. Irgendwann drückte eine Hand sanft ihren Arm und sie blickte auf. Der Priester war verstummt und alle sahen sie an.
Verwirrt schaute sie zu ihrem Onkel auf, der voller Güte und Verständnis lächelte und ihr zunickte.
"Du kannst nach vorne gehen, wenn du möchtest." flüsterte er ihr zu. Miriams Knie wurden weich. Sie sollte zu diesen Kästen dort gehen, wo ihre Eltern drin lagen? Sie weigerte sich, darüber nachzudenken, wie es in diesem dunklen Sarg wohl sein mochte, alleine und getrennt von denen, die man liebte.

Es war ihr nicht möglich, diese Särge mit ihren Eltern in Verbindung zu bringen. Ihr Verstand weigerte sich einfach wieder, die Realität zu akzeptieren. Sie wollte auch nicht mit ihrem Abschied das Ende der Zeremonie einleiten, in der ihre Eltern für immer und ewig unter schweren Steinen eingeschlossen werden würden.
Das geduldige Warten der Trauergesellschaft schlug um in ungeduldiges Raunen. Die, die weiter hinten standen und nichts sehen konnten, verlangten flüsternd zu erfahren, warum es nicht weiter ging. Miriam aber starrte einfach auf die Särge, völlig unfähig, sich zu bewegen.
Dann kam Bewegung in die Gesellschaft, denn eine schwarz gekleidete, übermäßig füllige Dame kämpfte sich energisch nach vorne durch. Madame Dubrés erreichte Miriam und warf dem Onkel einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann nahm sie energisch Miriams Hand und legte sie auf ihren Arm.
"Komm, Kind. Egal, was da vorne ist, nutzen wir es einfach für ein Abschiedsgeschenk." raunte sie ihr zu und zog sie unerbittlich voran. Miriam warf ihr einen dankbaren Blick zu und tappste hölzern mit. Madame zupfte zwei Rosen aus einem der Buketts, die die Halle verzierten und drückte sie Miriam in die Hand, als sie dicht vor den Särgen stand, auf deren Kopfseite je ein riesiges Blumengebinde thronte.
Miriam verstand und das zuversichtliche, auffordernde Nicken von Madame half ihr, sich darauf zu konzentrieren, weiter zu gehen. Miriam schaffte die letzten drei Schritte alleine und blieb zwischen den Särgen am Fußende stehen. Lange schaute sie auf beide Särge, dann legte sie liebevoll je eine Rose auf das glatte Holz und streichelte die Blüten sanft. Ihr Abschied blieb stumm. Als sie sich endlich losriss, war Madame schon wieder bei ihr, griff nach ihrem Arm und führte sie an die Seite.
"Sehr gut gemacht, Kind. Du hast es hinter dir." raunte sie ihr zu und tätschelte ihre Hand. Miriam dankte ihr mit einem zitternden Lächeln und nahm am Rande wahr, dass nun die restliche Familie Abschied nahm. Nach ihr folgten die Trauergäste und allmählich häuften sich die Blumen zu Füßen der Särge. Manche stellten auch Kerzen auf, andere legten Briefe dazu, die später mit den Blumen eingesammelt und zum Haus von Madame gebracht werden würden, wo Miriam und auch ihr Onkel mit seiner Familie untergebracht waren.
Der Kondolenzzug wollte kein Ende nehmen. Immer wieder knickste Miriam höflich, murmelte einige Dankesworte und wusste nicht einmal, zu wem sie gerade sprach, weil sie nicht aufsah.

Allmählich lichteten sich die Reihen. Die meisten Gäste würden nun nach Hause fahren und nur einige speziell geladene Gäste würden Miriams Kutsche nach Hause folgen, wo noch ein kleiner Imbiss wartete. Miriam wurde einmal mehr schwindlig, als ihr das Essen einfiel. Sie hatte den ganzen Tag nichts essen können vor Aufregung. Erst war die Schneiderin gekommen und hatte in Windeseile ein altes Trauerkleid von Madame aus schlanken Zeiten für Miriam geändert. Sie hatte auch Maß genommen, um die eine oder andere Bestellung später von Madame aufzunehmen, die ohne Rücksprache mit Miriam einfach eine Auswahl für das Mädchen zusammenstellte, damit sie salonfähig war.

Als man sie aus der Gruft hinaus zur Kutsche begleitete, waren draußen bereits Fackeln aufgestellt und angezündet worden, denn der Himmel hatte sich weiter bezogen und täuschte eine viel zu früh eintretende Dämmerung vor. Die frische Luft tat Miriam gut. Sie atmete tief ein und blickte zum Himmel hinauf. Sicher würde Sergej sich jetzt ärgern, nicht in ihrer Nähe sein zu können. Oder hatte er den Wetterumschwung genutzt?
Ihr Blick schweifte über den alten Friedhof und blieb an einer kleinen Baumgruppe hängen. Dort stand Sergej, den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut tief in die Stirn gezogen. Doch sie erkannte sein blasses Gesicht und seine Statur und er hob den Kopf leicht, als er erkannte, dass sie ihn sehen konnte. Er lächelte ihr zärtlich zu und schickte ihr ein kaum merkliches Nicken. Seine Lippen formten Worte, die sie aber seltsamerweise geflüstert in ihrem Kopf hörte, nicht vom Wind zugetragen.
"Ich bin immer bei dir." Ein zittriges, aber freudiges Lächeln hellte ihr Gesicht kurz auf und veranlasste Madame, sich neugierig umzusehen.
"Was siehst du, Kind?" Ihre Frage lenkte Miriam ab. Sie suchte blinzelnd nach einer Antwort und sah wieder zu der Baumgruppe. Doch Sergej war verschwunden. Miriams Lächeln blieb.
"Nichts, Madame. Mich traf nur das Wissen, dass ich geliebt werde." murmelte sie und erntete ein beruhigendes Tätscheln.
"Sicher, Kind! Aber sicher!"

1 Kommentar:

  1. Also mit den Beerdigungskapiteln hast du dich jetzt wirklich selbst übertroffen. Ich kann Miriam bildlich vor mir sehen, wie sie es nicht schafft, den gut gemeinten Rat ihres Onkels zu befolgen. Ich kann sie dabei sehen, wie sie von Madame die Unterstützung bekommt, die sie braucht und die Rosen auf die Särge legt, die ihr so wenig bedeuten.

    Und dann der ewige Zug der tatsächlich Trauernden, der Anbiedernden und der geifernden Schmarotzer, dem sie auch noch beiwohnen muss und höflich knicksen und nicken muss. Ich kann mir vorstellen, wie dankbar sie für einen Schleier war.

    Und dann steht da Sergej. Der Mann, der sie so zärtlich geliebt hat und der sie nun immer noch liebt und, im Rahmen seiner Möglichkeiten, für sie da sein wird. Eine glückliche Fügung, dass die Sonne sich verzogen hat und es ihm ermöglicht hat, auch zu kommen. Und was für eine schöne Möglichkeit sich hier doch für den Einsatz der Telepathie gibt.

    Ob Madame eine Ahnung hat, wie Miriam ihre Bemerkung gemeint hat? Man sagt doch immer, weise Frauen könnten wissen, wenn eine Frau die Unschuld verloren hat. Nun hat sie sie zwar schon vorher verloren. Aber ob Madame nicht doch etwas gemerkt hat, davon, dass Miriam am Morgen allzu fröhlich war?

    Warten wir ab. Ein schweres Kapitel ist jedenfalls geschafft.

    Liebe Grüße
    Joe

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