Freitag, 23. September 2011

Noctambule II: Auf dem Präsentierteller

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Anya hatte sich erholt und ihre alte Kraft zurückgefunden. Sie hatte sich angewöhnt, die Menschen nicht zu töten, sondern lieber mental so zu beeinflussen, dass sie das Geschehene vergaßen.
Jedes Mal, wenn sie den Verletzten zurück ließ, sorgte sie dafür, dass er entweder gefunden werden konnte, oder geschützt genug lag, um seine Ohnmacht gut zu überstehen. Sie brauchte aber wesentlich mehr Beute, um sich zu sättigen. Ideal war diese Lösung auch nicht, doch blieb sie dabei, solange in der Stadt so ein Aufruhr herrschte.

Nachdem die Gardisten ihren Unterschlupf gefunden hatten, fühlte sie sich dort nicht mehr sicher. Auch wenn der eine Unteroffizier wohl Gefallen an ihr gefunden und etwas zu Essen geschickt hatte, wollte sie ihr Glück nicht herausfordern.
Joscelin hatte tief und fest geschlafen, als sie diese Nacht losgezogen war und würde sicherlich wie die Nächte zuvor auch weiter schlafen. Anya zog vorsichtig ihre Runden. Sie veränderte ihre Route täglich und blieb auf der Hut vor George.
Diese Nacht hatte sie das Hafengebiet südwestlich verlassen und streunte an den Ufern entlang, wo vereinzelte Fischerboote dümpelten. Letzte Nacht hatte sie herausgefunden, dass es noch einen weiteren kleinen Privathafen gab, der geschützt in einer Bucht außerhalb des Hafenbereichs lag. Dort hoffte sie auf einen neuen Unterschlupf.

Sie war lautlos und schnell auf ihrem Weg, hielt aber plötzlich inne, als sie das gemütlich gepfiffene Lied hörte. Die Dunkelheit war schon längst kein Problem mehr für sie. Ihre empfindlichen Augen machten jeden Schatten aus, nahmen jede Bewegung wahr und huschten nun suchend umher.
Zwar sah sie durch die Bäume Wasser, aber konnte den Ursprung des Pfeifens noch nicht ausmachen und so huschte sie lautlos dem Geräusch entgegen.
Das Ufer war leicht zu erreichen und erneut blieb sie stehen. Obwohl kein Mondlicht die Nacht erhellte, reflektierte das Wasser die Lichter der Stadt fast wie funkelnde Sterne. Durch die vorgezogene Landzunge wurde der größte Teil des Windes abgefangen und hier herrschte gerade fast völlige Windstille.
Der Lärm der Stadt erreichte diesen Ort fast gar nicht und für einen Moment bezog Anya das schöne Lied in ihre Stimmung mit ein und genoss die Idylle.
Hier zu wohnen musste herrlich sein. Hier wäre es wunderschön, mit Armand zu wohnen und mit ihm das Kind aufwachsen zu sehen. Ein wehmütiges Lächeln umspielte kurz ihre Lippen. Dann schüttelte sie den Gedanken ab und drehte langsam den Kopf in die Richtung, aus der das Lied kam.

Sie umrundete eine Baumgruppe, die den Blick auf eine kleine Bucht verborgen hatte. Erneut blieb sie stehen, doch diesmal abrupt und verblüfft. Vor ihr dümpelte ein altes Hausboot, an zwei Leinen mit dem Land verbunden. Einen Steg zum Boot hinüber konnte sie nicht entdecken, also war der Bewohner entweder nicht auf Besuch vorbereitet oder aber – und das war viel wahrscheinlicher – er erwartete und wollte einfach keinen.

Das Hausboot war recht lang und lag nicht besonders tief im Wasser. Der Aufbau war aus massiven Baumstämmen erstellt worden und wäre das recht flache Dach nicht, hätte man ein Blockhaus vor sich. Sogar Fensterläden gab es und genug Platz vor und hinter dem Haus, um sich frei auf dem Boot zu bewegen. Ein verziertes Holzgeländer schützte die Bewohner davor, ins Wasser zu fallen und ein weiterer kleiner Aufbau schien für den Kapitän gedacht zu sein, wenn er das Schiff steuern musste.
Als Anya geduckt und hinter Bäumen versteckt am dem Hausboot vorbei lief, erkannte sie, dass es am Heck sogar eine kleine, überdachte Veranda gab.
Hier saß der Skipper auf einem Schaukelstuhl, die Beine vor sich auf das Geländer gelegt und den breitkrempigen Hut weit in die Stirn gezogen. Vor ihm am Geländer war eine Angel befestigt, deren Schur reglos ins Wasser hing und die Angel mit dem leicht hüpfenden Blinker verband. Der Mann stopfte sich gerade eine lange Pfeife und war vom Pfeifen in ein tiefes, schieftöniges Singen übergegangen.
Anya ließ sich dabei Zeit, den Mann zu beobachten. Es war unklar, ob er alleine lebte oder ob seine Frau im Haus lag und tief schlummerte. Um diese Uhrzeit zu angeln, war an sich schon ungewöhnlich. Allerdings wies die sorglose, zufriedene Haltung des Mannes auch auf ein sorgenfreies, zufriedenes Leben hin, in dem es ihm frei stand, zu angeln, wann er wollte und wo er wollte.
In Anyas schmalem Gesicht zeichnete sich zum ersten Mal seit langem ein Lächeln ab. Dieses Hausboot gefiel ihr. Und wenn der Mann dort alleine lebte, dann konnte er ihren Hunger endlich komplett stillen. Schnell fegte sie die aufkommenden Skrupel beiseite. Sie brauchte eine sichere Unterkunft für Joscelin und sich selbst. Und da vorne, vor ihren Augen, lag es auf dem Präsentierteller.

1 Kommentar:

  1. Ein Hausboot als Vampirunterkunft scheint mir geradezu ideal. Auch wenn ich irgendwie glaube, dass da wohl noch Ärger im Busch ist.

    Ansonsten frage ich mich, wo George sich nun eigentlich aufhält... :) Irgendwo muss er doch sein. Armand findet ihn nicht, Sergej auch nicht und Anya auch nicht. Dennoch zieht er eine Spur Leichen durch das Hafenviertel.

    Jetzt muss aber mal langsam der Knoten irgendwie platzen...

    Liebe Grüße
    Joe

    AntwortenLöschen

Bitte beim Kommentieren höflich bleiben. Es gibt hier die Möglichkeit Anonym zu kommentieren, aber denke bitte kurz nach ob du das wirklich möchtest. Unterzeichne deinen Kommentar doch mit einem Pseudonym oder deinen Initialen, dass man weiß, welche Kommentare alle von dir sind. Oder noch besser, du nutzt nicht die Auswahl "Anonym" sondern "Name/URL" und lässt das Feld für die URL einfach frei. Dann wird dein Kommentar mit deinem selbst gewählten Namen angezeigt.

Vielen Dank.