Samstag, 13. August 2011

Noctambule II: Ironie des Schicksals

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Als Maurice mit seinem Auftrag heimkehrte, brach bereits die Dämmerung an. Er versorgte das Maultier und streifte auf dem Weg ins Haus seufzend Staub und Tierhaare von seinem Anzug. Seine Kleidung hatte weiß Gott schon bessere Tage gesehen und noch immer widerstrebte es dem Butlerherzen, derart schäbig herumlaufen zu müssen. Er hoffte auf sein nächstes Gehalt, um sich endlich vernünftig einkleiden zu können. Diese Kleidung hier würde nicht einmal von einer guten Wäscherin gerettet werden können.

Er betrat das Haus und stieß beinahe mit Armand zusammen, der gedankenverloren den Flur entlang ging und sein Halstuch richtete. Armand blickte interessiert auf.
"Wo ist die Kleine?" fragte er gelassen.
"Sie beschloss, bei Madame Dubrés zu wohnen, Monsieur. Ich soll ihre Grüße entrichten und ihre Bitte um Verständnis, da einiges zu regeln sei und Madame Dubrés wohl über entsprechende Kompetenz verfügt." erklärte Maurice. Armand musste schmunzeln und nickte.
"Das ist nachvollziehbar. Immerhin ist sie dort auch in Sicherheit und unter ihren Leuten." Armand dachte kurz an den noch schlafenden Sergej und hatte Mitgefühl. Er würde wohl oder übel nun bei der alten Dame einbrechen müssen, um Miriam sehen zu können. Er wollte sich zum Gehen wenden, doch Maurice hob kurz die Hand und hielt ihn mit dieser Bewegung auf.
"Ich habe noch eine Botschaft für Euch, Monsieur. Ich vermute, sie ist von höchster Wichtigkeit." verkündete er und weckte damit Armands Interesse. Er wandte den Kopf und musterte seinen Butler mit neuer Aufmerksamkeit.
"Die da wäre?"
"Mademoiselle Sansisoise scheint sich bis letzte Nacht bei Madame Dubrés aufgehalten zu haben. Doch obwohl Madame ihr Unterschlupf und Hilfe anbot, ist sie offenbar verschwunden." Maurice behielt seine Mimik im Griff und wirkte nach außen völlig gelassen. Doch innerlich hoffte er auf ein erfreutes Lächeln von Armand und ließ seinen Arbeitgeber nicht aus den Augen.
Armand hob tatsächlich aufmerksam den Kopf. Er lächelte nicht, sondern war sofort konzentriert und wirkte sogar leicht überrascht.
"Sie war bei der alten Schabracke?!" Maurice nickte bekräftigend.
"Die Comtesse vermutet, dass sie noch nicht besonders weit gekommen sein kann, denn sie trägt nur ein Nachtgewand unter ihrem Umhang und keine Schuhe. Madame Dubrés hatte die durchnässte Kleidung verbrennen lassen." Armand musterte Maurice grübelnd, aber in seinen Augen lag ein Hoffnungsschimmer, der bei den letzten Worten stärker aufleuchtete. Armand lächelte und nickte dankend.
"Das ist eine gute Nachricht, Maurice. Vielen Dank." Er wollte sich zum Gehen wenden, drehte sich aber noch einmal um.
"Ehe ich es vergesse. In der Küche liegt dein Gehalt vom letzten Monat. Verzeih, dass ich es vergessen hatte." Nun war es an dem Butler, freudig drein zu schauen. Aber er riss sich zusammen.
"Danke sehr, Monsieur. Aber wäre es in Anbetracht der Situation nicht besser, ein wenig zu sparen und das Geld für dringendere Bedürfnisse auszugeben?" Er könnte sich innerlich ohrfeigen für seinen Großmut, aber ihm war durchaus bewusst, dass er Armand einiges verdankte und sich auf diese Weise revanchieren konnte. Armand schüttelte lächelnd den Kopf.
"Es ist genug da, mach dir keine Sorgen. Ach ja, Sergej wollte mir beweisen, dass er kochen kann und hat eine Kartoffelsuppe gekocht. Naja. Ich habe die Wette gewonnen. Aber man kann sie essen." Maurice blickte erheitert auf.
"Ich werde sie probieren, Monsieur." versprach er.
"Tu das. Sergej schläft. Erzähl ihm später die Neuigkeiten, ich mache mich mal auf die Suche." Armand ließ sich erklären, wo Madame Dubrés wohnte, verabschiedete sich dann von Maurice mit lächelndem Nicken und griff nach seinem eleganten Umhang, dessen schnürbare Kapuze im Moment noch wie eine zweite Stofflage über den Schultern hing.

In der vorangeschrittenen Dunkelheit brauchte Armand keine Kapuze. Er hatte weder zu befürchten, dass man ihn erkannte, noch regnete es. Im Gegenteil, es war ein lauer Sommerabend. Die Luft duftete nach frisch gemähtem Heu und war erfüllt von dem Lärm der Zikaden, die noch dringend einen Partner suchten und mit dem Reiben ihrer Hinterbeine versuchten, die Weibchen anzulocken.
Armand hatte keinen Sinn für die spätsommerliche Idylle. Vielleicht wäre es sogar schön gewesen, mit Anya einfach durch die Felder zu spazieren. Aber dazu musste er sie erst einmal finden und sich bei ihr entschuldigen. Den ganzen Tag schon hatte er mit seinen Zweifeln gekämpft, ob sie ihm überhaupt verzeihen würde. Es war ihm ein Rätsel, warum sie überhaupt weggelaufen war. Wollten Frauen nicht eigentlich immer über diese Missverständnisse reden? Hatte er sie wirklich so tief verletzt? Wenn ja, könnte er sich dafür selbst grün und blau ohrfeigen.

Seine schnellen, raumgreifenden Schritte führten ihn direkt zu der Villa der alten Dame. Schon als er die Straße entlang lief, runzelte er die Stirn und als er die Auffahrt sah, stand er völlig perplex mitten auf dem Weg und starrte auf das Gebüsch, in dem er sich den ganzen Tag und eine halbe Nacht lang versteckt hatte. Er konnte es einfach nicht fassen, dass er tatsächlich die ganze Zeit wenige Meter von Anya entfernt gewesen war. Die Ironie des Schicksals schmerzte ihn mehr, als er zuzugeben bereit war.
Langsam hob er seinen Blick zum Haus und tastete mit den Augen die Fassade ab. Irgendwo dort wohnte nun auch Miriam. Das war gut so, denn sollte Anya zurück kommen, würde Miriam sie sicherlich aufhalten können und Sergej benachrichtigen lassen.
Langsam drehte er sich um und blähte die Nasenflügel, als könne er Anyas Spur aufnehmen. Seine Augen suchten die Umgebung ab, obwohl er nicht erwartete, Anya zu sehen. Wohin konnte sie gegangen sein?
Die spärliche Bekleidung würde Anya nicht davon abhalten, die ganze Nacht zu wandern und zwischendurch zu jagen. Schließlich war sie sogar splitterfasernackt durch den Wald gerannt, um vor ihm zu fliehen. Irgendwie erinnerte ihn seine Suche wieder an damals. Die Situation war nicht unähnlich. Nur suchte er sie heute aus einem ganz anderen Grund. Er musste tief durchatmen, als er diesen Gedanken zu Ende führte.
Es gab keine andere Erklärung. Er wollte sein Leben nicht mehr ohne Anya führen. Er wollte ihre langen Haare streicheln, ihre unendlich weiche Haut liebkosen und nie wieder auf diesen unnachahmlichen Augenaufschlag dieser herrlichen blauen Augen verzichten müssen, mit dem sie ihm auf betörend unschuldige Weise immer wieder zu sich lockte.
Er hatte Anya zu seiner Liebessklavin machen wollen, die sich ihm demütig unterwarf und ihm voller Hingabe ihren Körper schenkte. Aber sie hatte ganz subtil den Spieß herumgedreht und ihn mit unsichtbaren Fesseln an sich gebunden. Er konnte die Tatsache nicht weiter verleugnen. Was er für Anya empfand war mehr als Lust und Verlangen. Es war tiefer, ursprünglicher, inniger und erfüllender. Und mit dieser Erkenntnis legte sich ein Lächeln auf seine Lippen, während seine Augen entschlossen aufglühten. Er würde sie finden und wer ihn daran hindern wollte, war bereits tot ohne es zu wissen.

1 Kommentar:

  1. Achja - die gute alte Ironie. Ich hatte doch gesagt, Armand werde sich hinterrücks dental attackieren, wenn er rausfindet, wie nah er an ihr dran war. Und schon tut er es.

    Tja - Und was das Reden angeht. Als Anya verschwand stand nichts weiter als ein unausgesprochener Vorwurf im Raum. Beide hatten ihn zu dieser Sekunde, ohne ein wirkliches Wort zu wechseln, zum allergrößten Nachteil des jeweils anderen ausgelegt. Und was hat man nun davon? Eine verzweifelte Suche im Dunkel der Nacht.

    Interessant sind auch Armands Überlegungen. Er hatte ja nun schon mehr Mädchen wie Anya. Er hatte Ebru, die ihm leider unter den Händen weggestorben ist. Obwohl er auch schon da, schlicht ALLES unternommen hatte um sie zu retten. Er hatte Marie, deren Schicksal wir noch nicht kennen. Und nun hatte er Anya. Er neigt wohl doch ein wenig dazu, sich zu verlieben. Auch wenn er das vor sich selbst vielleicht nicht so gern zu gibt.

    Doch jetzt endlich hat er es kapiert. Also muss er sie suchen und finden und das was er findet richtig deuten und nicht gleich wieder ausrasten.

    Wer kann hier eigentlich besser riechen? Ein Hund oder Armand? Ein Hund würde die Spur ohne große Probleme finden. Man müsste ihn nur einmal die Nase in das Bett halten lassen, in dem Anya geschlafen hat und schon könnte man hinterherrennen. Armand kennt den Geruch natürlich. Der braucht nicht am Bett zu schnüffeln.

    Also Armand.. such Anya. Such!

    Liebe Grüße
    Joe

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