Mittwoch, 3. August 2011

Noctambule II: Ich möchte nach Hause

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Sergej hatte ganze Arbeit geleistet. Sein Gespräch mit Miriam war lang gewesen, immer wieder unterbrochen von Tränen und Zeiten des trübsinnigen Schweigens. Aber schließlich hatte Miriam sich soweit fassen können, dass sie bereit war ihm aufmerksam zuzuhören. Ihre Angst vor ihm ließ deutlich nach, wenn auch das Gefühl in ihr, einem gefährlichen Raubtier gegenüber zu sitzen, hartnäckig bleiben wollte.
Maurice hatte eine kräftige Kartoffelsuppe zubereitet und schließlich saßen Miriam, Armand und Sergej gemeinsam in der Küche und die beiden Männer sahen Miriam zu, wie sie mit jedem Löffel Suppe hungriger zu werden schien.

Mit der heißen Suppe kehrte auch die Farbe in ihr Gesicht zurück und ihre Lebensgeister erwachten. Noch immer ungläubig und staunend betrachtete sie die beiden Männer, die ihr freundlich aber zurückhaltend Gesellschaft leisteten. Man war zum vertrauten "Du" übergegangen, nachdem die Drei festgestellt hatten, dass sie so viel inzwischen miteinander verband, dass man nicht mehr von einer lockeren Bekanntschaft reden konnte.
"Aber ich habe immer noch nicht verstanden, warum Anya weggelaufen ist." fasste sie ihre Gedanken zusammen. Sergej hatte ihr ruhig und geduldig die Einzelheiten der Entführung geschildert und mindestens zweimal erklärt, warum sie nun hier in diesem Bauernhof lebten. Das alles hatte sie inzwischen verinnerlicht, doch Anyas Flucht wollte ihr nicht in den Kopf gehen.
Armand zuckte mit den Schultern.
"Ich hatte gehofft, du kannst mir erklären, wie sie denkt." meinte er resigniert. Miriam schüttelte den Kopf. "Meine alte Amme hat mir erklärt, dass Frauen, die ein Kind erwarten, manchmal seltsame Dinge empfinden und sich schrecklich schnell unverstanden fühlen. Oder habt ihr euch gestritten?" Armand schüttelte seufzend den Kopf. Streit konnte man das nicht nennen, aber er war sicher, dass Anya sich unverstanden fühlte. Er selbst hatte mit aller Gründlichkeit dafür gesorgt und ärgerte sich maßlos über sich selbst.
"Gestritten nicht, aber ich habe sie sehr verletzt, fürchte ich." gab er zu. Miriam hob ihre dunklen Augen vorwurfsvoll zu dem großen Mann. Noch immer hatte er diese seltsame Wirkung auf sie. Einerseits flößte er ihr einen unglaublichen Respekt ein, aber durch die Erlebnisse der letzten Nächte war dennoch eine Art Freundschaft entstanden.
"Also wenn ich in ihrer Lage wäre, würde ich meine Freundin besuchen und mich bei ihr ausheulen." überlegte sie und wies dankend Maurice zurück, der ihren Teller auffüllen wollte.
"Ihre Freundin sitzt in unserer Küche." gab Sergej schief grinsend zu bedenken. Miriam nickte grübelnd.
"Wenn ich dann sehen würde, dass das Haus meiner Freundin abgebrannt ist und nicht weiß, wo sie steckt, dann würde ich wahrscheinlich trübsinnig nach Hause gehen." überlegte sie weiter. Armand machte eine ungeduldige Handbewegung.
"Was sie aber offensichtlich nicht getan hat. Das bringt uns nicht weiter." Miriam senkte den Kopf. Sie fühlte sich hilflos und hatte keine Ahnung, wo Anya sich aufhalten könnte. Ihre Gedanken schweiften ab. Sie hatte sich nicht gebührend von Papa verabschieden können und noch weniger von ihrer Mutter. Es zog sie zurück zu ihrem Haus, um sich selbst zu vergewissern, was dort geschehen war.
"Wie erkläre ich nur, wo ich gewesen bin, wenn ich zurückgehe?" überlegte sie laut. Sergej hob überrascht eine Braue.
"Du willst wirklich zurück?" fragte er nach. Miriam musterte ihn verblüfft.
"Aber ja! Ich will das Haus sehen, ich will wissen, was mit dem Personal geschehen ist und ich muss mich doch um meine Angelegenheiten kümmern!" meinte sie verwirrt. Sergej war Armand einen langen Blick zu.
"Du bist minderjährig. Man wird dir einen Vormund vor die Nase setzen, der wohl nichts Besseres zu tun haben wird, als dein Vermögen, das er verwalten soll, zu verprassen und dich möglichst schnell zu verheiraten. Im besten Fall kommst du zu deinem Onkel oder zu dieser Cousine, die in die Kolonie reisen will. Wenn das Haus zu stark abgebrannt ist, wird man es abreißen. Das wird einen Teil deines Vermögens verschlingen." überlegte er laut.
"Ich müsste aber doch ziemlich reich sein?" fragte Miriam naiv. Bisher hatte Geld nie eine Rolle für sie gespielt. Sie bekam Kleidung, wenn sie welche haben wollte und zum Geburtstag hatte Papa ihr eine kleine, leichte Stadtkutsche geschenkt, mit der sie spazieren fahren konnte. Aber ihre Frage brachte Armand zu einem kurzen Lachen.
"Du wirst wohl einige Ländereien haben. Dein Vater wird sein Geld nicht auf einer Bank gesammelt haben. Nicht nur. An dieses Geld kommst du frühestens, wenn du einundzwanzig geworden bist. Bis dahin wird es von deinem Vormund verwaltet werden und wenn er es richtig macht, bekommst du monatlich einen gewissen Betrag, mit dem du tun kannst, was du willst. Er selbst wird natürlich auch etwas davon nehmen, da er dich ja unterhalten und verköstigen muss." erklärte er ihr. Miriam biss sich auf die Lippen.
"Papa hat einen Landsitz in der Provence." erklärte sie, ohne selbst zu wissen, worauf sie hinaus wollte. "Und ich glaube, er hat auch mit Pferderennen zu tun." Armand machte eine abwinkende Handbewegung.
"Sei dir sicher, er hatte viel damit zu tun. Er hat leidenschaftlich gern gewettet und er hatte mir auch gesagt, dass er ein wenig zu übermütig gewesen sei. Verlass dich lieber nicht darauf, dass du nun steinreich bist." Miriams Augen wurden größer und sie schaute ungläubig zu Sergej und Armand.
"Aber ich bin doch nicht völlig mittellos?" hauchte sie erschreckt. Armand zuckte mit den Schultern.
"Das kann ich dir nicht sagen. Ich gehe jedoch davon aus, dass ich selbst wesentlich mehr besitze als dein Vater." erklärte er gelassen. Miriam biss sich auf die Unterlippe und sah auf ihre Finger, die sie in ihrem Schoß ineinander verschränkt hatte. Sie wirkte plötzlich so klein und hilflos, dass Sergej sich von dem Küchenschrank abstieß und neben sie hockte. Sanft griff er nach ihren Händen und hielt sie fest, während er seinem Freund einen vorwurfsvollen Blick schickte.
"Du musst keine Angst vor der Zukunft haben. Es gibt immer Wege und du wirst nie allein sein." versprach er ihr leise. Armand betrachtete seinen Freund nachdenklich und schwieg. Seine Gedanken waren bereits wieder zu Anya abgedriftet. Miriam aber nickte und hob den Blick in Sergejs Gesicht.
"Ich möchte nach Hause." flüsterte sie bebend.

1 Kommentar:

  1. Miriam ist wirklich extrem zu bedauern. Ihr ganzes leben hat sie in behüteten Verhältnissen verbracht und diese wurden vor nicht allzu langer Zeit von Anya ein wenig gestört und nun in weniger als zwei Tagen komplett vernichtet.

    Auch wenn sie nun langsam erwacht aus ihrer Lethargie und Verantwortung übernehmen will, so kann sie es doch nicht. Sergej und Armand haben von den juristischen Verhältnissen dieser Zeit erheblich mehr Ahnung. Und die bittere Wahrheit, dass der Comte vielleicht sogar verschuldete, wenn nicht gar überschuldet war, will Miriam natürlich nicht in den Kopf.

    So erstaunlich es klingen mag aber einfach bei Sergej zu bleiben wäre rein rational und wirtschaftlich wohl die bessere Variante. Dennoch kann ich auch verstehen, dass sie sich einfach nur danach sehnt, wieder bei ihrer Amme zu sein, in einem Haus in dem man sich um sie kümmert.

    Gegen 17 Jahre behütetes Dasein kann Sergej nur schwer ankommen. Schauen wir mal, wo das nun hinführt.

    LG
    Joe

    AntwortenLöschen

Bitte beim Kommentieren höflich bleiben. Es gibt hier die Möglichkeit Anonym zu kommentieren, aber denke bitte kurz nach ob du das wirklich möchtest. Unterzeichne deinen Kommentar doch mit einem Pseudonym oder deinen Initialen, dass man weiß, welche Kommentare alle von dir sind. Oder noch besser, du nutzt nicht die Auswahl "Anonym" sondern "Name/URL" und lässt das Feld für die URL einfach frei. Dann wird dein Kommentar mit deinem selbst gewählten Namen angezeigt.

Vielen Dank.