Montag, 18. Juli 2011

Noctambule II: Die Hebamme

Dies ist ein Kapitel aus KayGees Noctambule Band Zwei. Für eine Inhaltsübersicht zu bisherigen Inhalten schaut doch bitte hier: Inhaltsübersicht Noctambule II

Lucia Mortese hatte aufgehört zu zählen, wie vielen Kindern sie bereits geholfen hatte, das Licht der Welt zu sehen. Aber in ihren winzigen Häuschen stapelten sich kleine Heftchen, in denen sie jedes Kind mit Namen, Gewicht, Größe und Geschlecht aufgeschrieben hatte. Ein kleines Kreuzchen bei vielen bezeichnete die Totgeburten.
Missgeburten hingegen hatte sie niemals aufgeschrieben. Diese Abneigung hatte sie von ihrer eigenen Lehrfrau in ihrer italienischen Heimat übernommen und war ein kleiner Protest gegen die Versuche der Difamierung, die damals leicht noch zu wenigen Hexenprozessen hätten führen können.

Zwar hatte es in Italien so gut wie keine Hexenverbrennungen gegeben, aber ihre Lehrfrau stammte aus Deutschland und sehr bald nach ihrer Ausbildung hatte es sie nach Frankreich verschlagen.
Lucia zählte stolze 43 Jahre auf ihrem krummen Rücken. Sie war sehr klein und zierlich, aber die krumme Haltung ihres Rückens im Alter ließ sie noch deutlich kleiner wirken. Aus ihrem faltigen Gesicht leuchteten noch immer dunkelbraune Augen liebevoll in die Welt und sie begannen zu strahlen, wenn sie kleine Neugeborene sah. Seit etlichen Jahren führte sie ein beschauliches, fast langweiliges Leben und hatte auch aufgehört, Wickelfrauen zu begleiten, bis diese ihre Ausbildung beendet hatten und sich stolz Hebamme nennen durften.

Eine ihrer treusten Kundinnen all die Jahre in allen Fragen über Frauenprobleme war Madame Dubrés gewesen. Die Botschaft, die Amanda ihr hatte zukommen lassen, verwirrte sie kein bisschen und sie hatte die blasse, junge Frau sehr vorsichtig untersucht.
Noch vor sechzehn Jahren hatte Madame sie gebeten, eine ihrer Zofen bei der Schwangerschaft und Niederkunft zu helfen. Nun schien es also wieder einmal so weit zu sein.
Sie hatte nicht danach gefragt, wer die junge Frau dort oben im Bett war und wollte nicht einmal den Namen wissen. All diese Dinge waren so unwichtig. Für Lucia zählte nur, ob ein neues Leben heranwuchs und dieses galt es dann zu unterstützen. Werdende Mütter waren für Lucia ein reines Wunder. Sie hatte selbst fünf Kinder auf die Welt gebracht und wusste, welche Verwandlungen im Körper der Mutter statt fanden.
Madame empfing sie in ihrem Salon, den üppigen Körper auf dem Sofa ausgestreckt und den Rücken mit einem Berg von Kissen abgestützt. Als Lucia eintrat, strahlte sie auf.
"Ah, Lucia! Komm und setz dich. Louis, bitte noch eine Tasse Tee für meine alte Freundin!" Lucia sank ächzend in den Sessel und stützte sich dabei schwer auf ihren Stock. Sie lächelte erfreut und ihre Augen leuchteten zufrieden, als sie sah wie ungeduldig Madame auf eine Auskunft wartete.
Aber diese wartete dennoch ab, bis Louis eine Tasse mit heißem Tee füllte, sie Lucia reichte und sich dann zurückzog.
"Nun erzähl schon!" drängte sie schließlich, doch die Hebamme ließ sich Zeit und schlürfte genüsslich. Vergnügt schaute sie dabei über den Tassenrand zu Madame, die ein ungeduldiges Seufzen ausstieß. Niemand sonst hätte wohl gewagt, der gefürchteten Madame Dubrés so die Stirn zu bieten.
Aber Lucia hatte nichts zu verlieren, kannte Madame schon lange und war sich der Sympathie ihrer Gastgeberin absolut sicher. Doch schließlich hatte sie ein Einsehen.
"Nun, verwirrend ist das schon. Einerseits würde ich auf eine Krankheit schließen, die ich nicht kenne. Die junge Frau ist viel zu blass, ungesund blass geradezu. Als hätte sie schrecklich viel Blut verloren. Aber sie sagt, ihr Monatsfluss sei längst überfällig und bestreitet eine Krankheit." meinte sie nachdenklich. Amanda hing still an ihren Lippen und ließ der alten Hebamme Zeit, sich am Tee aufzuwärmen.
"Andererseits… Ihre Brüste schmerzen und sind prall. Sie weiß nicht genau, ob sie schwerer geworden sind. Der Bauch zieht, ist aber erstaunlich muskulös und fest. Ich konnte nichts ertasten. Aber natürlich habe ich sie auch von innen untersucht." Sie zwinkerte und hielt die Tasse nun mit beiden Händen hoch. "Darf ich noch eine Tasse bekommen?" Amanda wies ungeduldig mit der Hand auf die Kanne, bewegte sich aber nicht. Lucia nahm sich selbst die Kanne vom Stövchen und schenkte sich ein.
"Also ich würde sagen, sie erwartet ein Kind und ist im zweiten, höchstens dritten Monat. Alles spricht dafür. Auch ihre traurige Art. Manchmal werden die jungen Mütter launisch und schnell viel zu traurig. Sie muss etwas zu tun bekommen, was sie ablenkt. Arbeit bringt keine werdende Mutter um!" verkündete sie fröhlich.
Madame Dubrés war keineswegs froh über diese Nachricht. Anya wusste nicht, wer der Vater des Kindes war und würde das Kind alleine groß ziehen müssen. Damit war die gesellschaftliche Leiter für die junge Frau unwiederbringlich zu Ende, auch wenn Amanda sie unterstützen würde. Lucia bemerkte die bedrückte Reaktion und schnaufte leicht.
"Es gibt keinen Vater, wie?" vermutete sie sofort. Amanda nickte still. Lucia kannte solche Schicksale zu hunderten. Viele dieser Frauen hatten sich aus Verzweiflung das Leben genommen, andere waren heruntergekommen, abgearbeitet und freudlos geworden. Etliche hatten ihre Körper verkauft, um das Kind am Leben halten zu können und nur wenige hatten die Kraft besessen, ohne tiefen Absturz den Kopf über Wasser zu halten.
"Nun, erst einmal muss das Kindchen wachsen und gedeihen. Die junge Dame weigert sich zu essen und behauptet keinen Hunger zu haben. Ich habe ihr viel frisches Obst, Gemüse, Fleisch und gute Suppen befohlen. Sie ist jung und kräftig. Es gibt keinen Grund, sich nun hängen zu lassen." erklärte sie burschikos. Amanda nickte wieder und schnappte sich einen kleinen Keks, an dem sie knabberte.
"Ich werde der Köchin entsprechende Aufträge geben. Soll dich mein Kutscher nach Hause fahren, Lucia?" Die alte Frau lächelte freudig und nahm das Angebot an. Sie wollte nicht wieder an dieser einen Stelle in der Einfahrt vorbeigehen, wo sie dieses seltsame, leise Stöhnen in dem dichten Gebüsch gehört hatte. Schon gar nicht alleine. Aber sie verschwieg ihr kleines Erlebnis auf dem Weg hierher. Man würde einer alten Frau sowieso nicht glauben. Und schließlich gab die Aussicht auf eine Kutsche keinen weiteren Grund, auf die Sache einzugehen.

1 Kommentar:

  1. Also Anya ist schwanger. Was vorher ja schon fast klar war ist damit also bestätigt. An der Aussage der Hebamme hätte ich dahingehend keine Zweifel.

    Interessant aber, dass Madame sich sorgen um Anyas gesellschaftliches Leben macht. Wenn sie wüsste, was ihr wiederfahren ist, würde sie solche Überlegungen wohl kaum anstrengen.

    Aber es ist nun wirklich die Frage was mit Anya passiert. Ich finde ja, sie sollte in den Vorgarten gehen und mal unter die Büsche gucken!! Dann würde sich das alels doch ganz schnell aufklären. Dann bringen die zwei noch eben George um und leben glücklich bis an ihr Ende. Aber *seufz* ...

    Anya muss aber bald mal aus dem Haus hinaus. Ich hatte ja fast schon befürchtet die Hebamme würde tot aufgefunden. Aber noch hat Anya sich scheinbar unter Kontrolle. Wollen schwangere Vampirweiber dann eigentlich auch so komische Kombis? Blut und Zwiebeln, Gurken, Schokolade? :)

    Und jetzt steigt diese blöde Schnepfe von Hebamme einfach ein und klärt es nicht auf. Ach du bist ein dummes Huhn Lucia. Du könntest so viel Glück stiften und gehst einfach weiter :(

    Gruß
    Joe

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