Dienstag, 21. Dezember 2010

Kurzgeschichte: Sargrileg

Auch diese Kurzgeschichte entstand für den Wettbewerb im Bestatterweblog. Auch KayGee hat dort einen Preis abgeräumt. Interessant ist hier natürlich auch, wass man so alles aus ein und derselben Idee machen kann. Zur Erinnerung: Mein Beitrag
Viel Spaß auch mit dieser Geschichte.



Jimmys Handy spielte seine Lieblingsmelodie. Normalerweise ließ er das Handy einige Sekunden klingeln und pfiff die Melodie mit, bevor er abnahm. Heute war ihm nicht danach, das Gespräch anzunehmen. Schon gar nicht, wenn "Mutter" auf dem Display aufleuchtete. Sein Tag war anstrengend gewesen und überaus erfolglos.
Er war als ausgeflippter Freak bekannt. Sein kleines, windschiefes Haus wirkte abbruchreif. Genau wusste niemand in seiner Straße, wie er überhaupt sein Leben finanzierte. Er arbeitete nicht und war selten außerhalb seiner Bruchbude zu sehen.
Meist waren die schiefen Fensterläden geschlossen und sperrten die Sonne aus. Besonders attraktiv war der Ausblick auf den verdorrten Rasen und den kaputten Zaun um sein kleines Grundstück sowieso nicht.

Jimmy saß fast den ganzen Tag an seinem alten Computer und zockte mit Menschen aus aller Welt. Das Spiel nannte sich Poker. Ununterbrochen fluchte er dabei und beschimpfte seine Mitspieler. Dabei lief der Aschenbecher über und dicke Rauchschwaden waberten durch das ungelüftete Zimmer.
Die Jalousie schloss nicht richtig, weil sie schief und verzogen in ihrer Schiene hing. Vereinzelte Sonnenstrahlen drangen hindurch und ließen die Rauchschwaden und die Staubpartikel aufglitzern.
Wenn Jimmy mal aufstand, stolperte er über Colaflaschen und Bierdosen oder trat in einen der vielen leeren Pizzakartons, die auf dem Boden herumlagen.
Heute hatte er spielen können, was er wollte. Alles ging schief und zu allem Überfluss war seine Internetverbindung heute instabil. Ständig flog er hinaus und natürlich genau dann, wenn er mal ein gutes Blatt hatte. Offenbar hatte das Schicksal etwas dagegen, dass er ein einziges Mal in seinem Leben Glück hatte. Andere wurden doch auch reich nur durch Pokerspielen!
Das Handy rockte vibrierend durch eine Colapfütze. Fluchend drückte er den Anrufer weg und stand auf. Vielleicht sollte er einfach mal ne Pause machen. Aufräumen wäre eine Alternative. Duschen könnte er auch mal wieder und nachsehen, ob noch ein sauberes Shirt im Schrank lag. Vielleicht sollte er einfach mal wieder etwas ganz anderes machen.
Er stolperte über seine Schuhe ins Wohnzimmer, als es heftig an seine Tür klopfte.
"Was?!" schnauzte er unfreundlich. Er wollte keinen Besuch. Er wollte niemanden bei sich haben.
"Eine Lieferung für Sie! Ich brauche nur eine Unterschrift!" rief ein Mann durch die Tür. Stirnrunzelnd öffnete Jimmy die Tür und betrachtete den Mann in seiner schicken blauen Speditionskleidung.
"Ich hab nix bestellt." maulte er den Lieferanten an. Der zuckte mit den Schultern und hielt ihm sein Pad entgegen.
"Ist aber Ihre Anschrift. Hier unterschreiben bitte." Jimmy linste ihm über die Schulter und griff nach dem Pad.
"Muss ich was zahlen? Dann nehm' ich's nicht. Was ist es denn?"
"Nein, Sie müssen nichts bezahlen. Keine Ahnung, ich lad es gleich ab." Jimmy unterschrieb, nun doch neugierig geworden. Der Mann nickte, steckte das Pad wieder ein und marschierte zu seinem LKW zurück, wo ein Kollege auf ihn gewartet hatte. Gemeinsam kletterten sie in den Wagen, wuchteten eine lange Kiste heraus und schleppten sie zum Haus.
"Wohin damit?" Jimmy starrte auf die Kiste. Was zum Teufel sollte das sein? Ein neuer Kühlschrank? Er deutete mit dem Daumen über die Schulter.
"Hinterm Haus in den Schuppen." verlangte er und folgte den Männern.

Den Schuppen hatte Jimmy erst letzte Woche entrümpelt. Eigentlich hatte er ihn abreißen wollen. Nun stand die seltsame Kiste aus zusammengenagelten Spanplatten und sinnigerweise mit einer dicken Folie umhüllt. Neugierig zog Jimmy die Folie herunter und begann die Holzkiste aufzuhebeln. Als die Bretter mit enorm viel Lärm auseinanderfielen, blieb Jimmys Kinnlade unten hängen. Vor ihm stand ein Sarg, aufwändig geformt, weiß lackiert und mit je drei Griffen aus gebürstetem Edelstahl pro Seite versehen.
Jimmy begann zu grinsen. Wer immer ihm das Ding geschickt hatte, musste Humor besitzen. Er fand den Sarg sogar recht schön. Der Deckel ließ sich leicht öffnen. Eine Duftmischung aus Holz, Lack und dezentem Parfum stieg zu ihm auf. Erstaunt sah Jimmy auf das Innere des Sarges. Er war mit einer weißen Polsterung bespannt und ein kleines, weißes Kissen mit hübschen Spitzenrändern markierte die Kopfseite.
Jimmy grinste noch breiter und dachte nicht weiter nach. Das Ganze war so einladend dass er mitsamt Schuhen und Kleidung hineinkletterte und bequem zurecht rutschte. Er faltete sogar die Hände auf dem Bauch. Es war so bequem hier drin, dass sein Lächeln blieb.
'Kein Wunder, dass die Toten immer grinsen.' dachte sich Jimmy. Dann schlief er selig ein.


Als Jimmy die Augen aufschlug, war es schon später Vormittag. Er hatte über siebzehn Stunden geschlafen! Blinzelnd überlegte er, wo er war. Als es ihm einfiel, schoss er stolpernd aus dem Sarg heraus und starrte verwirrt hinein. Er hatte seit Jahren nicht mehr so lange und erholsam geschlafen!
Kopfkratzend schlurfte Jimmy ins Haus zurück. Was, zum Teufel, war mit ihm los? Nur ein Irrer schlief freiwillig in einem Sarg!
Aus reiner Gewohntheit griff er im Vorbeigehen in den Kühlschrank und holte eine kalte Flasche Cola heraus, die er auf dem Weg ins Arbeitszimmer zur Hälfte austrank. Seine Kippen lagen noch am Computer, das Handy war in der Colalache festgeklebt und blinkte. 10 Anrufe in Abwesenheit, alle von seiner Mutter… wie üblich. Der Rechner war noch an und zeigte eine stabile Internetverbindung.
Jimmy zündete eine Zigarette an und setzte sich. Mit wenigen Klicks war er in seiner gewohnte Pokerrunde und zog sein letztes Echtgeldguthaben in seinen Stack.
Er fühlte sich fit, ausgeruht und konzentriert. Und er spielte wie noch nie. Die Cola neben ihm wurde langsam warm. Er vergaß sogar zu rauchen. Tief konzentriert spielte er, ruhig, diszipliniert und ohne zu fluchen.

Eine Stunde später hatte er über tausend Dollar gewonnen. Jimmy machte keine Pause. Er spielte 6 Stunden ohne Unterbrechung. Sein Internet hielt, seine Glückssträhne ebenfalls. Als er sich verabschiedete, spielte ein ungläubiges Lächeln auf seinen Lippen. Er hatte fünfundzwanzigtausend Dollar gewonnen.
Jimmy ließ sich sofort das Geld auf sein Konto überweisen und lehnte sich müde zurück. Soviel Glück hatte er noch nie gehabt. Er hatte sagenhafte Hände gehabt, die Karten waren ihm regelrecht nachgelaufen. Wenn sie mal nicht so gut waren, setzte er erfolgreiche Bluffs an. Etliche Mitspieler hatten ihn bereits beschuldigt, ein Cheatprogramm zu benutzen. Jimmy lachte darüber.
Beim Zurücklehnen knisterte es in seiner Hosentasche. Jimmy hatte den Briefumschlag mit seiner Anschrift, der auf der Folie des Sarges geklebt hatte, gedankenlos in seine Gesäßtasche geschoben. Nun holte er ihn heraus und drehte ihn in seinen Händen. Schließlich machte er ihn auf und fand darin eine Art Lieferschein und einen neuen, noch auszufüllenden Lieferschein im Anhang. Der Absender ließ ihn die Stirn runzeln. Joshua Nigel. Der Name sagte ihm irgendetwas.
"Schick ihn an den Menschen, den du am meisten hasst! Füll den beiligenden Lieferschein gleich aus." Las er auf dem Zettel.
Während er einen Schluck abgestandener Cola trank und nach einer Zigarette griff, fiel es ihm wieder ein. Ein alter Klassenkamerad hieß Joshua Nigel. Ein fetter, schwitzender Junge, der von allen ausgelacht und ausgegrenzt worden war. Er selbst hatte Josh mit steigender Fantasie geärgert. Ausgerechnet Josh schickte ihm nun einen Sarg?
Jimmy schüttelte den Kopf und erhob sich. Er wollte sich den Sarg noch einmal genauer ansehen. Doch als er vor dem Sarg stand, konnte er kaum aufhören zu gähnen. Das Spielen hatte ihn unendlich müde gemacht und der Sarg sah mehr als einladend aus.
Jimmy schnippte die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Dann kletterte er in den Sarg, rutschte zurecht und schlief mit einem Lächeln ein.
Am nächsten Tag spielte Jimmy an den höheren Tischen. Er gewann dreiundachtzigtausend Dollar. Den Tag darauf waren es über zweihunderttausend. Am Ende der Woche ließ sich Jimmy den Kontoauszug ausdrucken und klebte ihn an die Kühlschranktür. Etwas über eine Million Dollar stand auf der Haben-Seite.

Als Jimmy die Augen aufschlug, lächelte er bereits. Schwungvoll sprang er aus dem Sarg hinaus und rannte sofort wieder an den Rechner. Wie in den letzten sechs Tagen fühlte er sich ausgeruht und stark wie noch nie. Heute wollte er die zweite Million klar machen.
Aber das Internet weigerte sich. Auch nach dem zweiten Neustart blinkte die Anzeige der Internetverbindung rot. Jimmy fluchte und griff nach dem Handy. Dreiundzwanzig Anrufe in Abwesenheit las er auf dem vorwurfsvoll blinkenden Display. Als er die Tastensperre deaktivierte, ging das Handy aus. Der Akku war leer.
Fluchend stand Jimmy auf und ging rüber ins Wohnzimmer zu seinem Festnetztelefon. Es war stumm.
Jimmys Laune sank in den Keller.
Während er an seinem Rechner saß und immer wieder eine Verbindung aufzubauen versuchte, fiel ihm der Lieferschein wieder ein. Er zog ihn heraus und las ihn noch einmal durch. Wem würde er einen Sarg schicken? Ihm fiel nur seine Exfrau ein, die sein Leben komplett ruiniert hatte. Ohne weiter nachzudenken füllte er den Lieferschein aus und trug ihre Adresse ein. Er übernahm sogar die Anweisung, die Josh ihm geschickt hatte.
Als er den letzten Punkt setzte, blinkte das Internet auf. Die Verbindung war wieder da!
Jimmy drückte seine Zigarette aus, rückte bequem zurecht und begann zu spielen. Neun Stunden später druckte er seinen neuen Kontoauszug aus und klebte ihn grinsend neben den alten. Zwei Millionen Dollar!
Der Sarg brachte ihm Glück! Nie im Leben würde er das Ding seiner Exfrau schicken!

Lächelnd kletterte er in seinen Sarg, strich zärtlich über das reinweiß lackierte Holz und faltete die Hände. Er schlief ein.

Zwei Tage später fand man Jimmy. Der Arzt stellte als Todesursache Herzversagen fest. Jimmy sei im Schlaf friedlich gestorben, versicherte er der trauernden Mutter, die fassungslos die Kontoauszüge in den Händen hielt.
Jimmy wurde nicht in dem weißen Sarg beigesetzt. Seine Mutter betrachtete den Lieferschein, den er ausgefüllt hatte, als Auftrag und ließ den Sarg abholen. Jimmy erhielt eine Feuerbestattung. Während der Trauerfeier riss seine Exfrau jubelnd die Hände in die Luft und küsste den Lottoschein, der den Jackpot geknackt hatte.

1 Kommentar:

  1. Sowas nenn ich Ironie. Man sollte doch wissen wann man aufhören sollte. Ich finde die Geschichte sehr fesselnd und gut geschrieben.

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