Samstag, 23. Oktober 2010

Kurzgeschichte: Die Guillotine IV

Dies ist das vierte Kapitel einer Kurzgeschichte in vier Kapiteln:

- Kapitel 1
- Kapitel 2
- Kapitel 3


Es dauerte lange, bis Gerd endlich schlafen konnte. Das Stimmengewirr machte ihm zu schaffen. Er konnte sie durch die Lärmschutzstöpsel hören und sie diskutierten wild darüber wie es nun weiterging. Viele gaben ihm die Schuld, dass sie nun verschrottet würden. Immer wieder zog er an der Flasche mit dem billigen Fusel und langsam legte sich ein Schleier um seine Wahrnehmung und er konnte schlafen.


Am nächsten Morgen weckte ihn deutlicher Lärm. Ein Akkuschrauber war zu hören und auch, wie Metall aneinanderschlug und Druckluft zischte, wenn man Schläuche abzog. "Sie sind da!", durchfuhr es ihn. Die kleine Milchglasscheibe verriet, dass es draußen schon längst hell war. Das mussten die Leute sein, die der Chef geschickt hatte um abzubauen. Er riss die Türe auf und erstarrte. Man hatte die Kulisse der Hinrichtungsszene bereits abgetragen. Auch die drei Damen waren schon weg.

Nur die Guillotine stand noch dort und der Henker daneben. Jetzt würden sie alles abbauen und dann war es vorbei. Panisch starrte Gerd in die Gegend. Die große Flügeltür, welche nach draußen führte war geöffnet und Tageslicht flutete den Raum. Stumm aber vorwurfsvoll blickte der Henker ihn scheinbar an. Dann zerriss das Kreischen des Kobolds die Stille. "Alle weg! Und nichts kannst du tun!", wiederholte er immer wieder.

Gerd warf die Puppe vom Richtblock der Guillotine. Dann zog er per Hand mit dem Seil das Messer hinauf und hielt es fest, während er sich selbst hineinlegte. Er wusste, dass es scharf war. Er selbst hatte es geschliffen. Nur eine scharfe Klinge, sieht auch aus wie eine scharfe Klinge. Sein Kopf schaute auf der anderen Seite hinaus. Dann ließ er das Seil los.


"Die Puppen haben ja wirklich unglaubliche Kostüme.", meinte Patrick und öffnete den Nächsten Sack mit Styroporflocken. "Die hat alle Gerd genäht. Er macht die Bahn jetzt seit 30 Jahren." Behutsam legten die beiden Männer die erste der drei Damen in eine der zahllosen Holzkisten die bereitstanden und polsterten sie gewissenhaft mit den Flocken ab. "Und wo geht das Zeug jetzt hin?" "Nach Ungarn. Dort gibt es ein Museum für Puppentechnik. Die wollen die Bahn eins zu eins wieder aufbauen und weiter betreiben. Dank Gerd ist alles so toll in Schuss, dass es auch noch zwanzig Jahre weiter laufen kann. Er ist ja schon wirklich wunderlich und ich glaube, er spricht sogar mit den Puppen. Aber gelernt ist gelernt. Und er hat im letzten Jahr eine Dokumentation geschrieben, wie alles funktioniert. Oh, ich hoffe überhaupt, dass die fertig ist. Ich werde ihn gleich mal fragen. Sonst lässt ihn der Chef Überstunden schieben, bis er das Ding geschrieben hat. Ohne die Dokumentation ist das alles wertlos. Kein Mensch weiß mehr, wie die Technik funktioniert."


Einige Tage später, war das Begräbnis gewesen. Viele Leute waren nicht gekommen. Herr Bollinger, der Chef des Freizeitparks hatte die Kosten übernommen. Der Verkauf der Geisterbahn war gescheitert. Nicht einen einzigen Fetzen einer Dokumentation hatte man gefunden. Sogar in seiner Wohnung hatte man danach gesucht. Der Computer, den man ihm in seine Werkstatt gestellt hatte, auf dem er sie hätte tippen sollen, war nie benutzt worden.

Traurig ging Herr Bollinger die Personalunterlagen durch und machte den Packen für das Archiv fertig. Bei den Unterlagen war auch der Arbeitsvertrag, den noch sein Vater mit Gerd ausgehandelt hatte. Es war das einzige Schriftstück auf dem Gerd je unterschrieben hatte. Auf der Linie für seine Unterschrift waren deutlich drei X.

6 Kommentare:

  1. Genial!
    Absoluter Hammer... ich bin total begeistert, auch wenn ich nun von Henkern und Kobolden träumen werde.
    Mach weiter, Joe!

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  2. Sehr tragisch. Die Angst vor dem Ende der Bahn war ihr eigentliches Ende...und das von Gerd.

    Sehr gelungene Kurzgeschichte!

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  3. echt schön geschrieben =D

    leider hab ich mit gerd kein mitleid, da ich geisterbahnen immer langweilig fand und coole achterbahnen immer viel toller ^^
    ...aber das mit den sprechenden puppen kenn ich, eine wohnt bei mir zuhause oO die verfolgt meine frau immer und taucht an den unmöglichsten stellen auf... die heißt katie ._. einmal hatte sie sogar ein messer dabei... schon seltsam!
    ich nehm mal meine tabletten ^^

    mfg... ausgerechnet:
    BANANEN

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  4. klasse geschrieben! Ein Dank an den Autor! Und ich dachte, ich würde nachher nicht gut schlafen können :) C.H.

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  5. Super, mega spannend geschrieben! Hätte nicht gedacht, dass man eine Kurzgeschichte so spannend schreiben kann!!

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